NON PLUS ULTRA

Von Malou Solfjeld, 2017

In seiner Reihe Non Plus Ultra zeigt Claus Rottenbacher die Halbinsel Gibraltar in einer zeit- und raumübergreifenden Perspektive, indem er als Ausgangspunkt einen Ort wählt, der in der europäischen Geschichte stets von essentieller Bedeutung war: In der griechischen Mythologie sind uns die Säulen des Herakles überliefert, sowie der Spruch „Non plus ultra“ („nicht darüber hinaus“), in der italienischen Literatur findet sich Dantes Treffen mit Odysseus, und in der engli-schen Philosophie und Wissenschaft eine Illustration von Francis Bacons Werk Instauratio Magna. All dies bezieht sich auf Gibraltar, den legendären winzigen Fleck am südlichsten Ende des spanischen Festlands, der seit dem Frieden von Utrecht 1713 zu Großbritannien gehört. Rottenbacher geht es aber nicht allein um das Zitat oder um eine Hommage an die alten Mei¬ster, sondern er will, dass wir überdenken, wo wir heute stehen, und vielleicht noch wichtiger, wo wir morgen stehen wollen. Seine Reihe Non Plus Ultra aus dem Jahr 2016 – ein Jahr, das manche, im weltweiten Maßstab betrachtet, als das schlimmste Jahr seit dem Zweiten Welt¬krieg bezeichnet haben – lässt die geopolitische Situation von Gibraltar relevanter erscheinen denn je: Sie eignet sich gewissermaßen zur Reflektion darüber, wie sich der Rest der Welt in diesen Zeiten verändert oder zumindest als historische Gedankenstütze, für eine Einschätzung davon, was morgen auf uns zukommen könnte.

Genauer betrachtet

In der Reihe fällt besonders Tafel 1713 - XXI auf, weil in diesem einen Bild alle wesentlichen Elemente des Themas zusammenkommen. Die Art und Weise, wie die Tafel die ganze Reihe reflektiert lässt sie dabei nicht nur als eine großartige Einführung, sondern auch als krönenden Abschluss erscheinen. Aus einer fast göttlichen Perspektive blickt der Betrachter vom Felsen von Gibraltar hinab, dem Berg, der für eine der Säulen des Herakles steht, dem Halbgott, welcher der Sage nach den Berg spaltete und so die Straße von Gibraltar schuf. Dabei trennte er den Kontinent Europa von Afrika und verband gleichzeitig das Mittelmeer mit dem Atlan¬tischen Ozean. Eine übernatürliche Geste wie diese ist wohl Göttern vorbehalten, sie kommt nur in Mythologien vor. Doch erscheint das Öffnen und Schließen von Grenzen durch Menschen mit außergewöhnlicher Macht nicht allzu weit von der Realität entfernt – und viel¬leicht ist dies gerade jetzt von noch größerer Bedeutung, da wir uns ständig mit Überzeu¬gungen von nationaler Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit konfrontiert sehen, ob es heißt „America First“ oder Brexit. Gibraltar bündelt diese Themen wie ein Brennglas. Auf Rottenbachers Tafel 1713 - XXI ist die Flagge Großbritanniens, einer der größten Kolonial-mächte der Welt, nur gerade noch so links unten im Bildausschnitt zu sehen, und doch ist sie äußerst präsent. Oben im Bild erkennt man ein technisches Gerät, das auf den ersten Blick wie eine Überwachungskamera aussieht, tatsächlich aber ein Touristenteleskop ist, damit Besu¬cher in Gibraltar sich das Andere ansehen können – sei es, an einem klaren Tag, die andere Seite, Marokko beziehungsweise Afrika, oder eine andere Art, die Berberaffen, die einzige wilde Affenpopulation in Europa. Es kann auch ein technologisches Anderes sein: Die vielen Tanker vor der Küste von Gibraltar, die sich wartend vor der billigsten Tankstelle im Mittelmeer aufreihen. Sie sind auch auf Tafel 1713 - IV zu sehen, wo sie eine Komposition ergeben, die auf die Darstellung der Säulen des Herakles in Francis Bacons Instauratio Magna von 1620 verweist. Der Stich des Titelbilds zeigt in der Mitte zwischen den zwei Säulen ein Schiff, das Wissenschaft und Philosophie in sich vereint.
Sowohl der Blick, als auch der Gedanke des Anderen sind in Rottenbachers Reihe Non Plus Ultra von zentraler Bedeutung. Bei der genaueren Betrachtung von 1713 - XIX und 1713 - XX gerät der Blick zu etwas beinahe Unheimlichem, wenn nämlich – nachdem man eine Weile lang hingesehen hat – scheinbar etwas oder jemand aus dem Berg heraus zurückblickt ... und das könnte durchaus der Fall sein. 1713 - XIX zeigt einen Berg voller Löcher, der an die gar nicht so weit entfernte Zeit erinnert, als Menschen den Berg zur Tarnung nutzten, um sich vor dem Feind zu verbergen, damit sie ihn angreifen konnten, bevor sie selbst angegriffen wurden. Im Berginneren, im Fels, in der Säule des Herakles, ist ein Tunnelsystem angelegt, das mit 55 Kilometern fast doppelt so lang ist, wie das Straßennetz von Gibraltar. Vor mehr als 200 Jahren geschaffen, wurden die Tunnel zuletzt im spanischen Bürgerkrieg, im Zweiten Weltkrieg und während des Kalten Krieges genutzt.
1713 - XX zeigt dagegen eine physische Erweiterung des blickenden Berges, derart, dass das Gebäude im Vordergrund die Bewegung von Kanonen artikuliert, die aus den Löchern feuern und Explosionen bewirken, eine Verkörperung der eigentlichen Absicht hinter der Tunnelanlage. Einen ähnlichen Gedanken verfolgt das Bilderpaar 1713 - XI und 1713 - XII, denn hier wird die natürliche Quelle, die dem Berg entspringt verengt, das Wasser in Rohren isoliert und damit zu einer reinen Ressource für den Menschen.
Diese Dichotomie von Natur und Kultur findet sich in allen Bildern der Reihe, und trotz der einem Standfoto ähnlichen ästhetischen Verwandlung der oft unansehnlichen Orte in der britischen Kolonie von Gibraltar bekommt man leicht das Gefühl, dass das, was für Rottenbacher wichtig ist, hinter den Bildern liegt: „Gibraltar war das genaue Gegenteil des mediterranen Ortes, den ich erwartet hatte, und ich spürte sofort, dass die Ambivalenz dieser geopolitisch exponierten Stelle etwas Seltsames an sich hatte. Ich bekam einen sehr starken Eindruck von Hoffnungslosigkeit, aber sobald ich versuchte, das einzufangen, tauchte gleich ein Element der Hoffnung auf, als ob die Erlösung immer gleich um die nächste Ecke lag.“ Am offensichtlichsten werden diese Gedanken in 1713 - V und vielleicht etwas weniger in 1713 -VI, doch selbst hier verbirgt sich hinter dem Felsen etwas Verführerisches, das dem Betrachter keine Ruhe lässt, weil es für ihn unerreichbar bleibt.
Diese Unzugänglichkeit führt uns zurück zu dem Moment, als Herakles die Straße von Gibraltar schuf, indem er den Felsen in zwei Teile teilte. Heidegger sagte einmal, dass man Gestein zwar wiegen könne, es benennen und seine Farbe und Form beschreiben könne, dass man aber nie wirklich einen Zugang bekäme, um den Stein vollständig zu verstehen. Selbst wenn wir versuchen, ihn physisch zu öffnen – wie es Herakles mit dem Berg tat und dabei, als Tor zur neuen Welt, seine Säulen hinterließ – kommen wir doch nur an unseren Ausgangspunkt zurück. Wir können von vorn beginnen und den Stein messen, aber der einzige Unterschied ist, dass wir nun zwei Steine vor uns haben. Für Heidegger ist ein weiteres, dem Stein ähnliches Ding die Brücke. Doch die Brücke, mehr Ort, als Objekt, ist ein Ding, zu dem wir tatsächlich physisch Zugang bekommen können. Indem wir das tun, so Heidegger, betreten wir das Geviert von Himmel und Erde, von Göttlichen und Sterblichen.
Bei der Betrachtung von Rottenbachers Reihe Non Plus Ultra, besonders den Bildern 1713- VII und 1713 - VIII, stellt sich die Frage, ob nun die Zeit gekommen ist, da wir endlich merken, dass wir Menschen nicht Herakles sind, dass wir nicht Grenzen errichten und abreißen sollen, sondern stattdessen – um nicht die Fehler unserer Eltern und Großeltern zu wiederholen – lieber anfangen sollten zu bauen, zu wohnen und zu sein. Das wäre im Sinne Heideggers, der nahelegt, dass es nicht nur darum geht, Brücken zu bauen, sondern auch darum, die Welt mit dem Geviert im Bewusstsein zu bewohnen. Dies bringt ein tieferes Verständnis von unserem Dasein als Menschen mit sich. Und davon, wie wir nicht nur uns gegenseitig oder die Erde behandeln, sondern auch den Himmel und Dinge und Orte, zu denen wir (noch) keinen Zugang gefunden haben. Weil wir – Gott sei Dank – keine Götter sind, haben wir von Herakles auch etwas über die enorme Verantwortung gelernt, die mit dem Gottsein einhergeht. Unterdessen können wir uns an dem Göttlichen erfreuen, das Rottenbacher besonders in jenen Tafeln eingefangen hat, auf denen nicht so sehr menschliche Spuren zu sehen sind, als vielmehr Spuren des Unzugänglichen.