Prostratio

Rafael v. Uslar (Berlin, Wanne Eickel)

Prostratio ist eine photographische Serie, in der Claus Rottenbacher seit 2009 Kircheninnenräume aus bodennaher Perspektive photographiert.
Als ein „Abbild des Gottesreichs auf Erden“, hat die Architektur von Kathedralen und Kirchen vergangener Jahrhunderte von jeher auf sämtliche, dem jeweiligen Zeitgeschmack entsprechende Überwältigungsstrategien gesetzt. Das Himmlische wurde den Irdischen dabei besonders gerne durch maximale Entrückung näher gebracht. Neben aller materiellen und bildnerischen Pracht waren schieres, umbautes Raumvolumen, vor allem aber sich über den Betrachter in jeder Form erhebende Raumhöhen wichtiges, erzählerisches Mittel zur architektonischen Verkündigung göttlicher Größe. Dabei verdankt die Kunstgeschichte dieser Ambition, alles Menschliche zu übertreffen, eine Vielzahl ihrer überzeugendsten Meisterwerke.
Es entspricht der sich auf Effektsteigerung verstehenden Dramaturgie solcher Orte, dass den kunstvollen Strategien der Erweiterung und Erhöhung sämtlicher Raumeindrücke Gesten der Verkleinerung und der körperlich räumlichen Zurücknahme gegenübergestellt werden. Das Niederknien der Gläubigen oder gar die Prostratio, das Darniederwerfen auf den Boden, erlauben eine zusätzliche Dramatisierung solcher Raumerfahrung. Die von einer bodennahen Perspektive aufgenommenen Photographien von Claus Rottenbacher jedoch zeigen, dass dieser offensichtlichen Logik der fortgesetzten Steigerung aller Raumerhöhungen zum trotz, dies dennoch nicht der Ort ist, von dem aus der Raum erlebt werden sollte.
In Rottenbachers Bildern scheinen die Kirchendecken auf den Boden zurück gezwungen. Es entsteht eine eigenartige Spannung zwischen einer Huldigung an die großartigen Ausmaße der Innenräume und einem tiefergelegten Fluchtpunkt, der den himmlisch entrückten Sphären visuell vermittelte Erdenschwere verleiht.
Betritt man das Innere eines Kirchenraums, so kann man erleben, wie die Augen kunstvoll durch das gesamte Gebäude geleitet werden. Man betritt ein aufwändiges Spektakel, das als eine wohl choreographierte Abfolge erzählerischer Sequenzen angelegt ist. Rottenbachers Perspektivwechsel innerhalb des Raumes führt zu einer Verfremdung der Wahrnehmung, die einen neuen Blick auf das Wahrzunehmende und dessen Ordnung erlaubt. Da, wo die Augen schrittweise durch den Raum und in dessen Höhe geleitet werden sollten, zeigen die Photographien stattdessen eine Gleichzeitigkeit von oben und unten. Der Blick ist nicht länger ein sorgsam geführter, er ist nun einer Art Tunnelperspektive ausgeliefert, mit der alles wie zugleich sichtbar erscheint. Dies führt jedoch keinesfalls zu einer Karikierung des Raumeindrucks. Stattdessen wird der Blick auf Besonderheiten und Eigenarten der architektonischen und künstlerischen Gestaltung gelenkt, die ohne diese Verfremdung viel schwerer wahrzunehmen wären. Die visuelle Abkürzung in die Raumtiefe schafft eine außerordentliche Intensivierung ihrer Wahrnehmbarkeit und eröffnet damit neue Perspektiven auf scheinbar Vertrautes.
Gewisse Einzelaspekte wie zum Beispiel die geometrische Ordnung der Architektur werden in diesen Bildern viel deutlicher sichtbar. Dabei verbindet sich die Geometrie mit der planimetrischen Ordnung der Photographie und bildet eine ornamentale Struktur aus, welche die Wahrnehmung des photographischen Bildes über dessen Abbildungsinhalt hinaus dominiert. Hier fügen sich die dargestellte Raumtiefe und die Flächigkeit der Photographie zu einer neuen Einheit. Schlussendlich erscheinen die geometrischen Oberflächenmuster und die dargestellte Räumlichkeit untrennbar miteinander verbunden.
Die Photographie eines Interieurs kann zum Ziel haben, einen Raum so darzustellen, dass dem Betrachter die Illusion suggeriert wird, so und nicht anders sähe er diesen Raum mit seinen eigenen Augen, wäre er nur dort - statt der Kamera. Claus Rottenbachers Photographien verweigern eine solche Vorstellung. Unter Umgehung der Ebene reiner Abbildung, richten sie das Augenmerk stattdessen auf ihre eigene bildliche Autonomie. Das, was sie zeigen, kann ganz eindeutig nur im Bild gesehen werden, und der Betrachter ist vor diesem Bild „vor Ort“, um das Gezeigte mit eigenen Augen zu sehen.