Minimalistische Mission

Zu Claus Rottenbachers Serie „Prostratio“
Boris v. Brauchitsch, Berlin

Wir armen Sünder treten ein in die geheiligten Innenräume des Katholizismus, in die Festungen eines Glaubens, der so großen Wert auf liturgischen Pomp, theologische Spitzfindigkeiten und dekorative Finessen legt. Die steinernen Böden schimmern, das Gold an Wänden und Decke glänzt, da soll nichts den Eindruck erwecken, der Kirche fehle es an Mitteln und Möglichkeiten. Wer hierher zum Beten kommt, der weiß sich in der Obhut einer Macht, die Gnade zu spenden und Sünden zu tilgen vermag. Doch die Räume, die wir sehen, sind annähernd leer, wir sind fast die einzigen hier, dürfen uns in der verführerischen Opulenz dieser Architekturen scheinbar ungestört umsehen und uns den perfekten Ort für die Betrachtung wählen. Die ganze Architektur, die ganze Pracht der schweren Kassettendecken und weit gespannten Kuppeln ist auf uns ausgerichtet, auf unseren idealen Standpunkt in der Mitte des Mittelschiffs, als sei alles nur geschaffen, um uns persönlich zu beeindrucken.
Die Fotografien dieser Kirchen sind so sachlich, wie nur irgend möglich, sie sind geradezu unnatürlich und erbarmungslos sachlich, denn es herrscht absolute Stille und – abgesehen von ein paar menschlichen Schatten, die bei den Langzeitbelichtungen vorbeihuschten – Bewegungslosigkeit. Kein Element spielt sich durch stimmungsvolle Beleuchtung in den Vordergrund, keine Linie stürzt, wie es der Optik eigentlich entsprechen würde. Diese Bilder zeigen auch keine Tatorte, wie Tatorte üblicherweise gezeigt werden: Opfer oder Indizien im Zentrum, zufällig hingestreckt oder eilig durcheinander geworfen. Hier gibt es keine sichtbaren Opfer, und das Indiz ist der gesamte Raum.
Die Aufnahmen von Claus Rottenbacher, entstanden 2009-2011 vor dem Hintergrund einer Aufdeckung von zahllosen Fällen sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche, zeigen emotionslos Innenräume, aufgenommen mit einer analogen Großformatkamera, deren Präzision keine Details entgehen. Und tatsächlich, diese Bilder zeigen mehr. Von der ewigen Verdammnis, Herr, befreie uns. Durch deine Menschwerdung und dein heiliges Leiden, Herr, befreie uns. Durch dein Sterben und Auferstehn, Herr, befreie uns, die wir hier stehen und ehrfürchtig staunen. Doch wir stehen gar nicht. Wir liegen – die Litanei in unserem Kopf, wie es sich für eine zünftige Prostratio gehört – flach auf dem Boden. Die Kamera und damit wir, sind nicht auf menschlicher Augenhöhe, der Boden ist uns so nah, dass wir ihn ein wenig unscharf sehen, während sich die Decken gewaltig über uns blähen.
Aus Staunen ist Unterwerfung geworden, dieses klerikale Innenleben ist nicht für flache Hierarchien geschaffen, sondern für eine deutliches Oben und Unten. Und die nüchterne Nummerierung der Interieurs, die Rottenbacher als Titel wählt, verdeutlicht, dass er dieses Machtprinzip nicht konkret verorten möchte, sondern dass seine Kirchenräume nur als repräsentative Repräsentanten fungieren.
Das Ritual der Prostratio, abendländische Extremversion des chinesischen Kotaus, dem Claus Rottenbacher den Titel seiner Interieurs entliehen hat, ist eine Geste bedingungsloser Kapitulation vor der Herrschaft eines anderen, in diesem Fall eines Gottes. Diejenigen, die ihm ihr Leben weihen, erniedrigen sich in der katholischen, orthodoxen und anglikanischen Kirche vor den Augen der Gemeinde, um dann vor einem göttlichen Auge erhöht zu werden. Ohne das Gefühl der Ohnmacht, ohne das Ausgeliefertsein ist der Kirche eine wirkliche geistliche Mission nicht vorstellbar. Es gilt, sich selbst preiszugeben und zwar bedingungslos. Um das subtil, aber auf den zweiten Blick umso nachhaltiger anschaulich zu machen, braucht der dezente Minimalist Claus Rottenbacher nicht mehr als die Verlagerung der Perspektive, denn letztlich ist, wie wir wissen, alles eine Frage des Standpunkts. Und hier zeigt der Standpunkt nicht nur, dass die Räume aufgeräumt sind, dass im Verständnis der Kirche „alles in Ordnung“ scheint, sondern auch, dass es in dieser Institution keineswegs selbstverständlich ist, aufrecht zu stehen.
Prostratio, das heißt nicht nur niederwerfen, sondern auch niederstrecken oder niederschlagen. Das klingt im Hinblick auf den, der am Boden liegt, nicht unbedingt nach einem freiwilligen Akt, und doch versteht die Kirche die Prostratio lediglich als Bekundung absoluten Vertrauens und wahrer Hingabe. Bei der Priester- oder Jungfrauenweihe, die mit dem Gelübde der sexuellen Enthaltsamkeit einhergeht – die Jungfrauen werden dabei durch ein mystisches Heiratsversprechen auf eine unbestimmte Zukunft vertröstet, in der Jesus auf sie alle wartet – ist diese Form der Demutsbekundung Teil des Prozederes. Doch so, wie sich aus dem Urchristentum, jener Religion der Unterprivilegierten, die Armut und Nächstenliebe predigte, ein Global Player mit unkalkulierbarer Macht und unüberschaubarem Reichtum geworden ist, so hat auch die diesseitige Sexualität immer eine fatale Rolle gespielt, die sehr viel mit Missbrauch von Vertrauen und Hingabe zu tun hat. Hat man ihn einmal entdeckt, den Standpunkt des Fotografen und seiner Kamera, dann lässt er sich nicht mehr ignorieren. Herr, komm und befreie uns, Herr, erhöre uns, Herr, erbarme dich, Herr, sei so gut und verschone uns.